Es gibt Menschen, die im Ruhrgebiet nicht begraben sein
möchten. Ein ehemaliger Kollege von Onkelchen, ein g’standenes Münchner
Mannsbild, gestand einmal, er fühle mehr Gemeinsamkeiten mit den Österreichern
als mit den Westdeutschen. Die Österreicher seien doch so viel kultivierter als
die Ruhrgebietler, meinte er, und redete einer Abnabelung des Freistaates
Bayern vom Rest Deutschlands das Wort. An die Stelle der lieblosen Zweckehe
Bayerns mit der übrigen Bundesrepublik solle eine Liebesheirat des Freistaats
mit Österreich einschließlich Südtirols treten. Onkelchen nickte jedesmal, wenn
sein damaliger Kollege solche steilen Thesen vertrat. Nicht weil er zugestimmt
hätte, sondern weil er sich dem zweifelsfrei zu erwartenden Münchner Grant
nicht aussetzen wollte, wenn er denn zu Widerworten ansetzte. Eine Union aus
Bayern, Österreich und eventuell Südtirol würde zumindest dazu führen, dass der
FC Schalke 04 wenigstens mal wieder Chancen auf die deutsche Meisterschaft
hätte.
Was hat das nun mit Onkelchen zu tun? Nun, er ist ein gar
nicht mal so heimlicher Fan des Ruhrgebiets. Es hing mit Jürgen von Mangers
Verkörperung des ewigen Ruhrpottlers Adolf Tegtmeier zusammen, dass Onkelchen
sich das Revier so ein bisschen wie das Gelobte Land vorstellt, na ja gut,
etwas grauer vielleicht. Für Onkelchens Mutter war Jürgen von Manger ein rotes
Tuch. Sie konnte den Charakterdarsteller mit der gedehnten Sprache („da hab ich
sie jesääääächt…“) nicht ausstehen. Onkelchen sah das anders. Für ihn war es
ein früher Ausdruck seines Revoluzzergeistes, Tegtmeier gucken zu können.
Vor allem wohl auch wegen des trockenen Humors von Jürgen
von Manger. In einer Folge von „Tegtmeiers Reisen“, so erinnerte er sich an
einen kurzen Ausschnitt, den er trotz der TV-Zensur seiner Mutter erhaschen
konnte, besuchte Jürgen von Manger seinerzeit mal Schottland und stellte sich
an das Ufer von Loch Ness. Er sagte irgendetwas über Nessie, das Ungeheuer, das
jenem trüben See angeblich innewohnt, machte dann eine Kunstpause und fragte
scheinheilig: „Woll’n Se mal gucken?“ Aus Onkelchens Sicht war das der
lustigste Witz der Weltgeschichte. Vielleicht lag es daran, dass von Manger
nicht ganz so behäbig rüberkam – oder vielleicht auf eine andere Weise behäbig
war wie die sonstigen TV-Unterhalter, die man auf den paar Kanälen zu sehen
bekam, die man damals hatte (Man hatte ja nix.). Gelacht werden durfte nur beim Komödienstadl, denn
auch Otto war tabu. Jürgen von Manger war da schon fast mit dem Blick in ein
anderes Universum gleichzusetzen, einem Universum, das keine Krachledernen und
keine Zither- und keine Blasmusik kannte und in dem es keinen
Einrichtungsgegenstand namens Petra Schürmann gab.
Wahrscheinlich hat Onkelchen aus diesem Grund das Ruhrgebiet
immer romantisiert. Seinen ersten Abstecher dorthin machte er allerdings erst
letzte Woche, und zwar mit dem Chor, zu dem ihn Tante Dilein alle vier Wochen
hinschleppt. Ein aus Essen gebürtiges Chormitglied hatte den Kontakt zu zwei
Chören in Essen und Solingen organisiert (gut, Solingen ist technisch gesehen
kein Teil des Ruhrgebiets, sondern des Bergischen Landes, aber lasst uns hier
nicht allzu kleinlich sein), und so schaukelten die sangesfrohen Schwaben am
frühen Morgen des 1. Mai in Richtung Rhein und Ruhr.
Neben den zwei Konzerten, über die ich hiermit den Mantel
des Schweigens breiten will, weil sie nicht sehr gut besucht waren, wurden
Onkelchen und seine Sangesfreunde in Essen auch über das weitläufige Gelände
der ehemaligen Zeche Zollverein geführt. Onkelchen war natürlich kurz davor, in
Hymnen über die wackeren Bergleute auszubrechen, die unter Tage das schwarze
Gold gewannen und in ihrer kargen Freizeit Tauben züchteten und Fußball
spielten, für diese Helden, die so spielten, wie sie malochten, und die so
malochten, wie sie spielten. Und dann erzählte ein ehemaliger Bergmann von der
Zeit, als die Schlote rauchten und die Presslufthämmer unter Tage
hämmerten und die Zeit von damals wurde
lebendig: Hömma, da war der Schwatte von nebenan, und mit dem ging man inne Kneipe,
nicht wahr, getz, aber dann kam man bei Koslowskis vorbei, und Mamma Koslowski
hatte noch ein paar Kartoffeln über, und dafür trug man ihr einen Eimer Kohlen
(was auch sonst) aus dem Keller hoch.
Der ehemalige Bergmann erzählte von den Tauben, die man
damals züchtete, weil die Vögel im Gegensatz zu dem Menschen zumindest die
Chance hatten, so etwas wie Licht und Freiheit er erleben. Und vom Fußball,
damals 1946, noch vor der Währung. Damals spielten die Sportfreunde Katernberg
(der Verein, bei dem auch Helmut Rahn das Fußballspielen erlernte) gegen
Schalke 04. Mehr als 20.000 Leute wollten das Spiel sehen, und das auf einem
Fußballplatz, auf dem sonst maximal fünf-bis siebentausende Leute Platz fanden.
Also stellten sich die Zuschauer auf den Bahndamm der Köln-Mindener Eisenbahn,
die an dem Sportplatz vorbeiführte. Davon bekam aber die Bahnpolizei bald Wind.
Die Beamten gingen zu den Zuschauern und forderten die Menge auf, den Bahndamm
zu räumen. Die gaben zurück: „In zwei Stunden kommt ihr wieder!“ An diesem Tag hatten
die Kohlenzüge erhebliche Verspätung.
Schalkedortmundduisburgbochumwattenscheidrotweißessenoberhausen.
Und Westfalia Herne. Aber Onkelchen hatte Westfalia Herne mit einem Fluch
belegt, denn aus Herne kam Andrea Jürgens, und wenn die Heulboje aus Herne im
Fernsehen ihr Scheidungskinderlied „Und dabei liebe ich euch beide“ jammerte,
rannte Onkelchen schreiend aus dem Zimmer.
Irgendwo muss die Sympathie mit dem Ruhrpott ja ein Ende
haben.
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